Opferbilder - Täterbilder

Organisatoren
Nachwuchswissenschaftler/-innen-Netzwerk "Aufarbeitung von Vergangenheit in außereuropäischen Regionen"; in Kooperation mit dem German Institute of Global and Area Studies (GIGA); der Berlin Graduate School of Social Sciences (BGSS); dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF); der Hans-Böckler-Stiftung (hbs) und der Philipps-Universität-Marburg
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.10.2009 - 18.10.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Eva Georg, Marburg Email:

Unter dem Titel „Opferbilder – Täterbilder“ hatten Anika Oettler, Ulrike Capdepón, Hannah Franzki, Ruth Fuchs, Nadine Haas und Anne K. Krüger zur zweiten Tagung des interdisziplinären Nachwuchs-Netzwerkes „Aufarbeitung von Vergangenheit in außereuropäischen Regionen“ (AVARnet) vom 16. bis 18. Oktober nach Berlin eingeladen.

Mit rund 60 teilnehmenden Nachwuchswissenschaftler/innen war die Tagung sehr gut besucht. In vier Panels beleuchteten 16 Forscher/innen die Konstruktion von Täter- und Opferbildern aus unterschiedlichen disziplinären und geographischen Perspektiven.

Den Auftakt der Veranstaltung bildete eine öffentliche Podiumsdiskussion mit dem Titel „Nach Diktatur und Massengewalt – wer sind die Opfer und wer die Täter?“. Moderiert wurde die Diskussion von Ingrid Wehr (Freiburg). Die Diskutanten Jens Gieseke (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam), Christoph Marx (Duisburg-Essen) und Regina Mühlhäuser (Hamburger Institut für Sozialforschung) verdeutlichten, wie in unterschiedlichen Fallbeispielen mit Tätern und Opfern verfahren wurde. Dabei zeigten sie, wie Zuschreibungen von Opfer- und Täterbildern konstruiert werden und welche gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen daraus folgen.

JENS GIESEKE, als langjähriger Mitarbeiter der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes selbst „Täterbilderproduzent“, ging dabei auf die Täterforschung ein, die zum einen selbst mit zur Konstruktion von Täterbildern beitrage, zum anderen sich aber immer auch mit der Frage konfrontiert sähe, wie mit ihren Ergebnissen umgegangen werden sollte. Als Beispiel führte er die Enttarnung von inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern an. Hier zeige sich deutlich die Problematik der Rollenzuschreibung, wenn jemand als IM enttarnt und damit als Täter dargestellt werde, ohne dass auch die Umstände seiner Tätigkeit berücksichtigt würden.

CHRISTOPH MARX machte anhand der Arbeit der südafrikanischen Wahrheitskommission deutlich, dass eine zunehmende Individualisierung der Täter stattfinde, gleichzeitig aber eine Kollektivierung der Opfer. Dabei sei das Bild der Opfer meist weiblich, obwohl die verhandelten Verbrechen meist die Ermordung ihrer männlichen Angehörigen als eigentliche Opfer betreffe. Das Verbrechen der Vergewaltigung, dem viele Frauen zum Opfer gefallen seien, werde dagegen nicht verhandelt.

Daran anknüpfend berichtete REGINA MÜHLHÄUSER über Verfahren an Internationalen Strafgerichtshöfen. Auch hier sei die Durchführung der Prozesse von Geschlechterklischees durchsetzt. Am Beispiel des Tatbestandes der sexuellen Gewalt zeigte sie, dass nicht nur ein Problem darin bestehe, dass Vergewaltigung lange nicht ausreichend als Tatbestand definiert war, sondern dass oftmals Männer nur als Täter und Frauen nur als Opfer verhandelt würden. In der übergreifenden Diskussion darüber, ob Täter-/Opfer-Dichotomien verzichtbar seien, wurde sowohl die Ambivalenz von Bildern als auch die unterschiedliche Bedeutung von Dichotomisierungen für verschiedene gesellschaftliche Funktionsbereiche (Wissenschaft, Gerichte) herausgestellt.

In drei Panels stellten die Nachwuchswissenschaftler/innen am zweiten Konferenztag ihre Thesen und Ansätze vor. In einem ersten Panel wurden „Täterdiskurse und Deutungskonflikte am Beispiel des Cono Sur“ diskutiert. GESINE BREDE sprach über ideologische Grenzgänge zwischen Täter- und Opferrollen in den neuesten Erzählungen der argentinischen Postdiktatur. KAROLIN VISENEBER, ebenfalls mit einem literaturwissenschaftlichen Thema, skizzierte die (De-)Konstruktion von Opfer- und Täterbildern in argentinischen Romanen über die Militärdiktatur. DANIEL STAHL präsentierte das Täterbild der argentinischen Juden im Diskurs über die Militärdiktatur und machte deutlich, dass die Konstruktion von Täterbildern auch als Strategie dienen kann, um eine Verfolgung durchzusetzen. ANTONIA TORRES setzte sich in ihrer Arbeit mit der umstrittenen Lyrik Bruno Vidals auseinander, der in seinen Gedichten die Position der Täter einnimmt. NINA SCHNEIDER untersuchte die offizielle Erinnerung an das Militärregime in Brasilien und warnte davor, die Differenzen innerhalb des Militärapparates während der Diktatur zu übersehen.

Im zweiten Panel ging es um „Opferbilder und ihre Konstruktion in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“. FRANKA WINTER sprach über den Diskurs der Stimmgebung und die Ökonomie des Sprechens in der peruanischen Wahrheitskommission. Anhand einer Zeugenaussage vor der Wahrheitskommission machte sie deutlich, wie der hegemoniale Prozess der „Stimmgebung“ durch die Opfer bewusst durchbrochen werden kann. NADINE HAAS fokussierte anhand zweier Beispiele der Nachkriegsliteratur aus Guatemala die Konstruktion von Opferbildern durch Sprache und beleuchtete dabei die Bedeutung, welche diesen Opferdiskursen bei der Aufarbeitung der Vergangenheit zukommt. SUSAN HERMENAU widmete sich der jüngsten Schriftstellergeneration Guatemalas und deren Umgang mit der Vergangenheit. Sie verdeutlichte, dass diese Literatur nicht darauf ausgerichtet sei, Vergangenheit zu bewältigen und sich bewusst gegen die Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses wende. Gleichzeitig zeigte sie auf, dass gewisse Muster des Krieges wie Gewaltverherrlichung, Drogenkonsum und Beschweigen in der Literatur übernommen und somit fortgesetzt würden.

Die „Hinterfragung von Aufarbeitungsparadigmen“ wurde in einem dritten Panel angesprochen. LUISA DIETRICH ORTEGA thematisierte die geschlechtsspezifische Konstruktion von Opfer- und Täterbildern im Rahmen von Reintegrationsprojekten. Besonders im Hinblick auf Frauen müsse berücksichtigt werden, dass ihre Kriegserfahrungen nicht auf eine Opferrolle reduziert würden, sondern sie auch als Kämpferinnen Erfahrungen gemacht hätten, die nicht zuletzt auch den Ausbruch aus gängigen Rollenklischees bedeutet hätten. HANNAH FRANZKI hinterfragte in ihrem Beitrag die Dichotomisierung von Tätern und Opfern in internationalen Strafprozessen und plädierte für die Einführung der Kategorie der „Begünstigten“. ALEXANDER HASGALL setzte sich kritisch mit den Diskursen um „Anerkennung“ und „Versöhnung“ auseinander und fragte, ob die Schuldanerkennung durch die Täter tatsächlich auch die Anerkennung der Opfer und damit auch den Beginn eines Versöhnungsprozesses bedeute. CHRISTIANE ADAMCZYK sprach über die Unsichtbarkeit der Bevölkerungsgruppe der Twa in der Aufarbeitung des ruandischen Genozids und ging dabei insbesondere der Differenz von Selbst- und Fremdzuschreibung nach.

Im vierten Panel am Sonntagmorgen ging es um „Umdeutungsprozesse“, in denen Tätern zu Opfern und Opfer zu Tätern werden können. REGINE PENITSCH arbeitete die Dynamiken polarisierter Identitäten in Darfur heraus und zeigte auf, dass Identifikation als Machtinstrument genutzt werden könne. HEIDE RIEDER thematisierte aus psychologischer Perspektive die transgenerationalen Folgen des Genozids in Ruanda. Sie verdeutlichte, dass nicht nur die Kinder von Opfern, sondern auch von Tätern durch die Erlebnisse ihrer Eltern geprägt werden. Hierbei betonte sie die Notwendigkeit, Kontakt zwischen den Nachfahren von Opfern und Tätern herzustellen, um bestehende Gewaltzyklen zu durchbrechen. ANNE K. KRÜGER setzte sich mit dem Begriff der „Versöhnung“ auseinander, der ein konstitutives Element von Wahrheitskommissionen darstelle. Am Beispiel der Enquête-Kommissionen zur „Aufarbeitung“ und „Überwindung der SED-Diktatur“ zeigte sie, dass hinter einer gemeinsamen Versöhnungsrhetorik immer auch unterschiedliche Täter- und Opferbilder stehen. Abschließend verdeutlichte JULIA BORST am Werk von Edwidge Danticat, dass die Grenzen von Opfer- und Täteridentitäten in der Literatur verschwimmen können und überwunden werden können.

Auf drei Postern stellten außerdem EVA OTTENDÖRFER (Vergangenheitsbearbeitung im interregionalen Vergleich - globale Normen, nationale Interessen und lokale Diskurse), ALEXANDRE FROIDEVAUX (Die kollektiven Gedächtnisse der spanischen Arbeiterbewegung in Franquismus und Postfranquismus, circa 1939-1990) und ALEXANDRA BINNENKADE (Das Erbe der Gewalt. Eine international vergleichende Fallstudie zu Diskurs, Politik und Praxis im Geschichtsunterricht) ihre Dissertationsprojekte vor.

Geprägt war die Tagung von der Frage, wie und wodurch Täter- und Opferbilder in Aufarbeitungsprozessen konstruiert werden. Dabei stand immer auch die Frage im Raum, ob die Täter-Opfer-Dichotomisierung aufgebrochen werden kann und muss. Während sie juristisch notwendig scheint, birgt sie gerade im Hinblick auf die häufige Gleichsetzung von Frauen als Opfer und Männern als Täter die Gefahr einer geschlechtsspezifischen Stereotypisierung. Deutlich wurde, dass gerade die Literatur es zwar einerseits vermag, Opfer- und Täterzuschreibungen zu durchbrechen, andererseits oftmals aber eben genau mit diesen gesellschaftlich verfügbaren Bildern arbeitet. Die Tagung zeigte, dass es eine entscheidende Herausforderung für die transitional justice Forschung darstellt, diese Konstruktionsprozesse bei der Aufarbeitung von Vergangenheit zu untersuchen.

In der Abschlussdiskussion wurde zudem deutlich, dass der globale Gebrauch des Begriffs der „Versöhnung“ sowohl in der Aufarbeitungspraxis als auch in der Forschung hinterfragt werden muss. ANIKA OETTLER schlug vor, auf den oftmals kritisierten Begriff der „Versöhnung“ zu verzichten und andere Aspekte der Aufarbeitung von Vergangenheit zu fokussieren.

Die Tagung hat verdeutlicht, dass die Konstruktion von Täter- und Opferbildern interdisziplinär als wichtiges Forschungsobjekt behandelt wird. Die hier vorgestellten unterschiedlichen Ansätze trugen dazu bei, den Blickwinkel auf Vergangenheitsaufarbeitung von einer Fokussierung auf konkrete Maßnahmen um die Perspektive auf ihre Folgen zu erweitern.

Durch die Tagung konnte das Nachwuchs-Netzwerk AVARnet weiter verstetigt werden. Eine Tagung für das nächste Jahr sowie weitere Aktivitäten (unter anderem eine eigene Website) sind bereits in Planung.

Konferenzübersicht:

Öffentliche Podiumsdiskussion: Nach Diktatur und Massengewalt - wer sind die Opfer und wer die Täter?
Moderation: Ingrid Wehr (Freiburg)

Christoph Marx (Duisburg-Essen)
Regina Mühlhäuser (Hamburg)
Jens Gieseke (Potsdam)

Panel 1: Täterdiskurse und Deutungskonflikte: das Beispiel Cono Sur
Moderation: Anika Oettler (Marburg)

Gesine Brede: Ideologische Grenzgänge zwischen Täter- und Opferrollen in neuesten Narrationen der argentinischen Postdiktatur

Karolin Viseneber: (De-)Konstruktion von Opfer- und Täterbildern in argentinischen Romanen über die Militärdiktatur

Daniel Stahl: Der Hitler der Pampa. Das Täterbild der argentinischen Juden im Diskurs über die Militärdiktatur

Antonia Torres: Den Tätern eine Stimme geben – Die widerspenstige Lyrik Bruno Vidals

Nina Schneider: Verdrängen und Erinnern des Militärregimes in Brasilien (1964-1985): Das Militär als Täter?

Panel 2: Opferbilder und ihre Konstruktion in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Moderation: Detlef Nolte (Hamburg)

Franka Winter: Stimme geben – Stimme nehmen. Opferbilder und die Ökonomie des Sprechens in der peruanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission

Nadine Haas: Die Bedeutung von Sprache und Schrift bei der Konstruktion von Opferbildern und der Aufarbeitung der Vergangenheit

Susan Hermenau: Das kollektive Gedächtnis in der guatemaltekischen Nachkriegsliteratur. Estuardo Prado und Maurice Echeverria

Panel 3: Weder Opfer noch Täter? Hinterfragung von Aufarbeitungsparadigmen
Moderation: Christian Gudehus (Essen)

Louisa Dietrich Ortega: Die geschlechtsspezifische Konstruktion von Opfer und Täterbildern im lateinamerikanischen Kontext

Hannah Franzki: Jenseits von Opfern und Tätern. Warum in der transitional justice Forschung „Begünstigte“ kein Thema sind

Alexander Hasgall: Täter und Opfer anerkennen. Über die vergangenheitspolitische Konstruktion von Identität

Christiane Adamczyk: Ein Konflikt der Anderen? Über die Nichtsichtbarkeit der Twa in der Aufarbeitung des ruandischen Genozids

Panel 4: Umdeutungsprozesse: von Tätern zu Opfern und von Opfern zu Tätern
Moderation: Wolfgang Form (Marburg)

Regine Penitsch: Dynamiken polarisierter Identitäten in Darfur

Heide Rieder: Nachkommen von Tätern organisierter Gewalt zwischen Opferstatus und dem Risiko zukünftiger Täterschaft: Transgenerationale Folgen des 1994 Genozids in Ruanda

Anne K. Krüger: Keine „Versöhnung“ ohne Opfer und Täter. Opfer- und Täterkonstruktionen durch die Enquête-Kommissionen zur „Aufarbeitung“ und „Überwindung der SED-Diktatur.“

Julia Borst: Haunted by the past, longing for salvation – das Trauma der Täter- und Opferfiguren im Werk von Edwidge Danticat

Bilanz der Tagung und Zukunft des Netzwerkes
Ulrike Capdepón und Anne K. Krüger